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Graureiher jagen

Bild: Laura Klemm

Der Schatten des Graureihers gleitet über mich. Es ist vier Uhr nachmittags, warm, der Frühling zieht ein. Ich folge dem Vogel, der wenige Meter über mir fliegend dem Weg folgt, den ich nehmen werde. Seine Läufe, seine Flügel, sein Kopf – keine Bewegung. Regungslos bahnt er sich seinen Weg durch das Blau. Von unten dringt der Straßenlärm zu mir. Ich gehe schneller.

In einer anderen Welt wäre der Graureiher eine Schildkröte, würde kriechen und ich müsste aufpassen nicht auf ihren glänzenden Panzer zu treten. Gemütlich würde ich hinter ihr hertrotten, in der Langsamkeit dem Trott entkommen. Es gäbe keine Zeiger, keine Zahlen; keine Glocke, die läutet und sagt: „Es ist Zeit.“ In einer anderen Welt gäbe es eine Gruppe Kinder, die Haare voll Sand. Sie würden durch die Straßen ziehen, Schilder halten, sie würden rufen und sie würden singen. „Hört, hört!“ würden die Stimmchen klingen, hinauf zu den Häusern, zu den Großen, die durch die Fensterläden spicken: „Man stiehlt euch eure Zeit!“

Wäre diese nicht meine Welt – ich würde abwarten und teetrinken, Tag ein, Tag aus. Zurücklehnen würde ich mich, mich auf Altherrenbänken niederlassen und der Welt stillsitzend ihren Lauf lassen. Ich würde den Menschen Sand ins Getriebe streuen, und sie würden langsamer und langsamer werden bis zu ihrer Verwandlung, bis ihnen Panzer wüchsen. Die grauen Herren würden Schildkröten werden, würden mit den Schildern die Zeit abschirmen und das Teetrinken verteidigen.

Vor lauter Sand, der durch die Sanduhr rast, sehe ich den Strand nicht mehr. Vor lauter Stunden vergesse ich die Zeit. Regungslos liege ich in meinem Bett, vergraben in kurzen Sekunden zwischen schrillen Signalen, bis die letzten zwei Ziffern durch fünf teilbar sind, bis vier Zahlen mir sagen: „Es ist Zeit.“ Ich denke an Graureiher und den Frühling, an Blätter, die schneller fallen, als ich je laufen könnte. An Sonnenwenden, die untergehen zwischen Montag und Donnerstag, die im regungsvollen Warten auf den Tag, an dem die Ruhe kommt, versinken. Und als ich in das Stück Himmel schaue, in dem gerade noch der Graureiher schwebte, fällt mir auf, dass sich die Zeit aus dem Staub macht, dass sie verschwindet hinter Abendwolken wie die Sonne im Westen.

Ich lege Stunden auf die Waage, zelebriere meine Zeitlosigkeit, meine Unfähigkeit, den Sand zu erkennen, die Stunden zu vergessen, sage: „Man stiehlt mir meine Zeit.“ Als zwischen mir und dem Graureiherschatten die Entfernung wächst, wird mir übel. Entsetzt sehe ich zu, wie ihn seine Flügel tragen, wie mein Arm eine Uhr durch die Lüfte schwingt. Der Zeiger tickt, die Uhr ist grün. Ich denke an Schildkröten.

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