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“Damals”- Über die Nostalgie

Ein Gefühl, das sich kribbelnd über den Körper ausbreitend um unser Herz legt und es schwer werden lässt, begleitet uns, wenn wir an schöne Zeiten zurückdenken. Es führt und durch die Welt, die seit mehreren Jahren derart krisengebeutelt erscheint, dass sich dies in einem generellen gesellschaftlichen Zustand niederzuschlagen droht: eine alles durchdringende Nostalgie.

Wisst ihr noch, wie es vor dem Lockdown war, dem ersten?

Damals sind wir doch mit ausgestreckten Armen über die sonnigen Felder getanzt und unser unbeschwertes Lachen hallte zwischen den Berggipfeln wider, dazu läuft im Hintergrund der Soundtrack von Sound of Music… ein klassisches verzerrtes Vergangenheitsbild. Denn weder haben wir in besagtem Film mitgespielt, noch ist diese Szene wohl ernsthaft von jemandem nachgestellt worden. Aber sie spiegelt ein Gefühl wieder, das wir alle nachvollziehen können. Das Gefühl von Freiheit, die nunmehr aus gesundheitlichen, nachhaltigkeitsbemühten oder kriegs- und katastrophenpolitischen Gründen zunehmend selbst zu einem nostalgischen Bild wird, in dem sich jede*r wünscht, mit Julie Andrews befreit inmitten der golden angeleuchteten Bergwipfeln zu tanzen.

Es hat sich inzwischen wohl eine gewisse Schwermut breitgemacht – oder besser gesagt eine melancholische Nostalgie. Schwer ist der Blick, vor allem in den dunklen Wintermonaten und wir hüllen uns in das wohlige Gefühl vergangener, von uns nachträglich geschönter Momente.

Es erinnert an die Spaziergänge mit meinen Eltern an den Kranebitter und Pradler Reihenhäusern entlang, die mir erzählen, wie sie in Kindheitstagen auf grünen Feldern und dann auf staubigen Baustellen gespielt haben. Diese komplette Wandlung des Landschaftsbildes lässt nur mehr durch einige mentale Anstrengungen die Erinnerungen nacherleben. Gleiches gilt für die Eisdiele, wo wir vor zehn Jahren die Bestellung als das beste Eis der Welt dankend gen Himmel gehalten haben. Diese ist vermutlich bereits neben dem neuen Starbucks insolvent gegangen, und damit bleibt auch einzig die Erinnerung daran, die seine damalige Realität bestätigen kann.

Woher kommt Nostalgie?

Nostaglische Gefühle als Phänomen sind als solches nichts Neues. In Perioden der Zäsur, etwa in der Romantik (um nur ein Beispiel zu nennen), wurden sie von Autoren, wie Ludwig Tieck oder auch den Brontë Schwestern, bewusst zelebriert und sind wie der/die Leser*innen darin beinahe versunken. “Der Wanderer” von Caspar David Friedrich gilt als Hauptwerk der Epoche und protaitierte das nostaglische Innere nach außen.

Der Georg über dem Nebelmehr – foto by Max Rojo

Der Schein trügt

Wir besinnen uns auf das Schöne, Gute und Reine unserer Biographie, das uns geformt hat und freudig der Möglichkeit ähnlicher Erlebnisse entgegenblicken lässt. Ein weiterer Urlaub an dem Ort, wo wir vor Jahren unserer erste Strandburg bauten, um das sandige Gemäuer noch einmal vor dem geistigen Auge zu begrüßen, ein Tränchen aus dem Augenwinkel zu wischen und den eigenen Kindern die Schaufel in die Hand zu drücken. Doch dann verzerrt sich die Szene in der Realität, nachdem die Kinder sich gegenseitig mit Sand bewerfen, dieser sich überall auf dem Handtuch verbreitet und der Sonnenbrand derweil unbemerkt unter die Haut schlüpfen kann. Man fragt sich am Kopf kratzend, warum die eigene Erinnerung sich nur sehr unscharf mit dem aktuellen Wahnsinn vergleichen lässt. Dabei liegt jene glitzernd und freudig kichernd in der biographischen Videothek, jederzeit ausleihbar, um im Kopfkino begleitet von dramatischer Musik abgespielt zu werden. Es wird einem ganz dramatisch erneut warm ums Herz, es vermag uns dennoch nicht auf dem Boden der Realität zu halten, sondern angetrieben von Freudentränen hebt es uns in die Höhe, führt unseren Finger auf den „Buchen“-Knopf auf Booking.com, Vögel zwitschern, eine sanfte Brise fegt umher, Harfen klimpern… bis eine leise Stimme aus einiger Entfernung uns zurückholt, diese selbst nur mit erhobener Augenbraue: „Aber weißt du nicht mehr… der ganze Sand?“

Eine Frage der Zeit

Es hat einen Grund, warum Urlaubs- und Kindheitserinnerungen die höchste Nostalgie hervorrufen. Wir gedenken heute unserer Kindheit, nachdem wir stümperhaft mit 18 Jahren auf ihrem Grab getanzt haben, mit anderen Augen, weil wir dort so viele Erfahrungen erstmals, und dadurch einprägsamer, erlebt haben. Radfahren, das besagte erste Eis, die erste Schürfwunde, das erste Dinosaurier-Pflaster. Ich erinnere mich sogar an das erste Mal, als mir der Kampf mit dem Schnürsenkeln gelungen ist. Heute eine Routineaufgabe, die automatisch abläuft und mit keinen starken Emotionen mehr verbunden ist.

Zudem erinnern wir uns lieber an schöne Momente, und das auch detaillierter. Zeit vergeht bekanntlich relativ. Nachmittage, an denen man zehren möchte und Uhrzeiger überhaupt stillstehen sollten, verfliegen mit einem Wimpernschlag. Stattdessen erscheinen andere Tage schier endlos. In der Retrospektive verhält es sich jedoch genau anders herum; erlebt man viel, was das Gehirn zu verdauen und zu sortieren hat, kommt einem die eine Woche Urlaub wie drei vor, der wochenlange Lockdown wie ein paar Tage. Objektiv gesehen dauert ein Tag immer 1440 Minuten, eine Minute 60 Sekunden, ein Moment übrigens 90 Sekunden. Dieser Moment, der dann eingefangen, gespeichert und zum Download bereit liegt, kann rückblickend eine Diashow von Erlebnissen mit bestimmten Personen sein, eine Abfolge an Pizzaschnitten oder das Gefühl, wenn man die Zehen im Sand spielen lässt und das Meer rauschen hört. Jeder hat an den besagten Urlaub andere Erinnerungen, denen im Winter auf dem Weg zur Arbeit nachgehängt wird, während das Autoradio wieder einmal nicht funktioniert. Dann schaltet das Gehirn um – vom Ärger über den Verkehr auf eine vergangene Urlaubserinnerung, – und man weiß: Man wird so eine Erinnerung wiederbeleben, wenn man im nächsten Jahr wegfliegt, dem Alltag entrinnt und eine Sandburg baut, wie man es als Kind getan hat.

“Damals”

Früher war nicht alles besser. Es war wohl auch nicht alles schlechter. Aber es ergibt sich sicherlich für jeden ein anderes Bild. Und damit war “Damals” sicher ganz anders als vom Einzelnen selektiv wahrgenommen – ein Puzzlestück, das man im Herzen mit sich trägt.

foto by: Max Rojo

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